Das Paradies der Damen

In seinem 1883 publizierten Roman «Au bonheur des dames» griff Émil Zola als einer der ersten die aufkommende Kaufhauskultur literarisch auf. In den 1890er Jahren erschien das Buch in deutscher Übersetzung – zunächst unter dem Titel «Zum Paradies der Damen», der später in «Das Paradies der Damen» geändert wurde. Ob auch St.Galler Kaufleute den Roman kannten und sich davon inspirieren liessen, ist unbekannt. Fest steht allerdings, dass so mancher keine Mühe scheute, seiner Kundschaft Kleidung und Accessoires mit Pariser Flair anzubieten und deren Kauf als Erlebnis zu gestalten. Einer von ihnen hiess Harry Goldschmidt.
Goldschmidt stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie im niedersächsischen Stadthagen. Nach der Heirat mit Fortuna Neuburger liess er sich 1911 in St.Gallen nieder und übernahm von seinem Schwager David das Damenkonfektionsgeschäft an der Speisergasse 31. Dieses baute er schrittweise zu einem der grössten und bekanntesten Konfektionshäuser in der ganzen Region aus. Dabei verfolgte er eine geschickte Marketingstrategie.
In den ersten Jahren schaltete er in der regionalen und überregionalen Presse, aber auch im St.Galler Adressbuch, eher bescheidene Kleinanzeigen, in denen er «schwarze Kostüme, Mäntel, Blusen, Röcke» anbot. Doch bereits 1916 pries er sein Geschäft als «grösstes und billigstes Damenkonfektionshaus der Ostschweiz» an und 1920 informierte er die Kundschaft über die Vergrösserung seiner Räumlichkeiten. Ab 1927 empfahl er ausserdem sein Massatelier. Damit ging offenbar auch eine ständige Erweiterung des Sortiments einher. Ob für Sport, Trauer oder Konfirmation: für jeden Anlass gab es eine passende Bekleidung, und zwar auch in «Spezialgrössen für starke Damen».
Goldschmidt beschränkte sich jedoch nicht auf den blossen Verkauf von Kleidern, sondern verstand es – wie es im Schweizer Arbeitnehmer vom 16. September 1937 heisst – «aus den tonangebenden Modezentren das Interessanteste nach St.Gallen zu bringen und das zu zeigen, was Frau Mode für die kommende Saison vorschreibt». Zu diesem Zweck liess er beispielsweise regelmässig eine Ausstellung in den Schaufenstern seines Ladens gestalten, um so einen Vorgeschmack auf die beginnende Frühlings- oder Herbstsaison zu geben. Die neuen Kollektionen wurden Ende März/Anfang April bzw. Ende September mithilfe von grossformatigen, illustrierten Zeitungsinseraten oder Plakaten beworben. In diesem Zusammenhang entstand auch das oben abgebildete Plakat von Philipp Arlen aus den 1920er Jahren – eins von den lediglich drei überlieferten Werbeplakaten für Goldschmidts Geschäft.
Pünktlich zum Auftakt der Frühlings- bzw. Herbstsaison veranstaltete Goldschmidt ausserdem eine Modeschau, die manchmal im Cinema Palace, in der Regel aber im Schützengarten stattfand. Sie wurde häufig mit grossen Anzeigen wie diese angekündigt und anschliessend in der Presse besprochen. So heisst es beispielsweise in der Thurgauer Zeitung vom 24. März 1934:

«In hellen Scharen ist am Montag die Damenwelt im «Schützengarten» erschienen, um die Creationen der ‹haute couture› sich vorführen zu lassen. (…) Der große Festsaal zeigte stimmungsvollen Schmuck von zarten Frühlingsblumen auf Tischen, Bühne und Rampen. Köstliche Perserteppiche, aus den Lagern von Schuster & Co., deckten Wände und Galerien, während eine fleißige Künstler-Kapelle für die nötige musikalische Umrahmung sorgte. Das erste farbenreiche Bühnenbild zauberte den Seequai von Luzern vor den Beschauer, während später die sonnige Côte d’Azur, die paradiesische Küste des Mittelmeers, die Folie zur Vorführung bildete. Nach einem kurzen, launischen Begrüßungswort Herrn Goldschmidts und einem eigens hiezu verfaßten Prolog, vorgetragen von Fräulein Ulrich vom Stadttheater, begannen die schlanken Mannequins ihre Arbeit.»
In unmittelbarer Nähe von Goldschmidts Laden befand sich dessen Pendant mit Herrenmode: das Konfektionshaus Fritz Landauer. Auch dieser nutzte gerne Plakate, um auf sein Angebot aufmerksam zu machen, was acht Sujets in der Sammlung der Kantonsbibliothek Vadiana bezeugen.
Die beiden Firmen sind nur zwei komplementäre Beispiele für eine lebendige St.Galler Textilbranche. Denn in jener Zeit war die ganze Stadt ein veritables Paradies für modebewusste Damen und Herren.