Anna Stern

Anna Stern, *1990 Rorschach

das alles hier, jetzt. Elster & Salis, Zürich 2020

Die Rorschacher Autorin Anna Stern erhielt 2020 den Schweizer Buchpreis für ihren am Bodensee verorteten Roman «das alles hier, jetzt.». Die Natur am Bodensee spielt darin eine wichtige Rolle.

Audioausschnitt

gelesen von Jonathan Fink und Christian Hettkamp (7:15 Min.)

Textauszug, Seiten 76 - 81

als du das nächste mal nach hause fährst, erwarten dich auf dem schreibtisch in deinem alten zimmer die fotoalben aus eurer kindheit. ich dachte, sagt swann hinter dir im türrahmen, ich dachte, du wolltest vielleicht. danke, sagst du, doch eigentlich willst du nicht. du hast angst davor, angst vor der vergangenheit, die jetzt noch so ordentlich zwischen die albumdeckel gesperrt ist. doch als du dich später schlafen legst, sind in der dunkelheit die umrisse der alten erkenntnis ausmachbar, des wissens, dass die vergangenheit nie mehr irgendwo ordentlich sein wird, dass es hier nichts gibt, nichts geben wird, was dich nicht irgendwie an ananke denken lässt. es sind weiterhin umrisse, nicht mehr. begleitet von der frage, ob das gut ist oder nicht.

es ist sommer, als du aufwachst, vor dem fenster frühe dämmerung. du schlägst die leichte decke zurück, rennst nach nebenan und schüttelst eden aus dem schlaf. aufwachen, sagst du, heute ist der tag. in der küche steht swann und streicht butter auf brote, belegt sie mit salat, mit gurken und fleisch. zwei wasserflaschen stehen auf der küchenabdeckung, eine bratwurst, ein cervelat, nektarinen. du setzt dich an den tisch und trinkst einen schluck von der kalten milch mit schokolade, kaust einen bissen brot, zu aufgeregt, zu voller freude für hunger und durst. ein gefühl von schulreise überkommt dich, als swann zuerst eden und dann dir ein weihwasserkreuz auf die stirn zeichnet, es küsst und euch einen schönen tag wünscht, passt gut aufeinander auf. fred und ananke warten bereits auf der straße auf euch, als ihr mit euren rädern durch den garten und die einfahrt fahrt, und unterwegs schließen sich euch auch vienna und cato an: eine bande, eure bande. gänsehaut überzieht deine arme, als ihr den hang hinab richtung hafen rast: es ist früh, es ist kühl, doch der tag wird heiß: der erste sommertag nach einem grauen, nassen frühling. am hafen folgt ihr fred zum boot, dessen holzbug golden schimmert, dessen weiße segel sanft im morgenwind wehen. du staunst immer wieder: fred ist nur wenig älter als ihr, doch fred besitzt bereits ein boot. das boot, die «oneiroi», schaukelt, als fred vom steg auf das deck springt, und du wirst ungeduldig, es drängt dich, es fred gleichzutun, du schubst vienna, los, mach schon. fred dreht sich um und sagt: die «oneiroi» ist mein boot, die «oneiroi» ist mein boot, und wenn das heute gut gehen soll, dann gehorcht ihr mir. und ausnahmsweise tut ihr genau das. als ihr den hafen verlasst,

du fährst mit dem finger über die kätzchen an den weidenästen, die avi im garten geschnitten hat. ihre zartheit erinnert dich an das fell von muellers hasen, auf die ananke und vienna und cato und du jeweils aufgepasst habt, wenn mueller in urlaub fuhr. draußen: du bleibst, dein herz bleibt stehen beim anblick der schneeglöcklein und krokusse unter dem zwetschgenbaum, deine gedanken laufen gegen eine wand. ananke hat hier. ihr habt hier. einst.

wegfahrt von euren schuhen, die auf der hafenmauer auf euch warten, kriecht die sonne eben über die berge im osten und blendet die frühen fischer beim leuchtturm an der hafenausfahrt. der himmel ist wolkenlos, doch nicht ohne dunst, und das nördliche ufer verschwindet darin, unsichtbar, nicht vorstellbar: der see euer meer. du setzt dich achtern aufs deck und lässt deine füße über die seite baumeln, und ananke setzt sich neben dich und sagt, toll, nicht, und du nickst, zu sehr pirat, um etwas zu entgegnen, zu sehr voll des wunders für sprache. als es gegen mittag zugeht, segelt ihr in richtung des naturschutzgebiets am östlichen ende der bucht. fred lässt dich den anker auswerfen, und ihr zieht eure kleider aus und schwimmt an land, euer mittagessen in freds seesack. ihr sammelt feuerholz, ihr steckt würste auf angespitzte äste, ihr legt euch auf dem schmalen streifen wiese zwischen strand und auenwald ins gras und lauscht, als ananke aus «la belle sauvage» vorliest. am nachmittag schwimmt ihr, ihr spielt federball, und ihr sucht anhand der karte nach dem schatz, den fred im wald versteckt hat, die goldmünzen geschmolzen, als ihr die blechkiste endlich findet. später ziehen wolken auf, weiche, weiße, wattige, die sich in der ferne zu bergen türmen, und der wind weht kräftiger. fred sagt, dass es spät wird, dass ihr zusammenpacken müsst, und natürlich nützt euer protestieren nichts, dass vienna sich versteckt und cato fred die zunge rausstreckt. als ihr zur «oneiroi» zurückschwimmt, schwimmst du langsam, jeder zug ein kraftakt, den deine arme und beine nur mühevoll ausführen, und du bist froh, dass fred dir ins boot hilft. ihr segelt nach westen dem sich rot färbenden himmel entgegen, und du merkst, dass du müde bist, müde

in einem der fotoalben stößt du auf eure geburtskarten. links die von eden und dir, auf der vorderseite liest du in swanns handschrift «ich erwache im dunkeln, weil die vögel sich regen, ein murmeln in den bäumen, das flattern der Hügel. es ist der morgen meiner geburt, der erste von vielen. löwen brüllen über tempel, und die erde bebt. aber es ist nur das morgen, das wache hält über das heute.» und als du die karte umdrehst, stehen da deine namen und die von eden und euer gewicht und eure größe und das datum eurer geburt. auf der rechten seite des albums die karte von ananke. vorn eine zeichnung von vaska: ein känguru mit einem baby-känguru im beutel. dann anankes namen und das gewicht und die größe und das datum von anankes geburt.

und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl gleichzeitig in deinem körper zu sein und außerhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.

 

Textauszug / Audioaufnahme: Mit freundlicher Genehmigung der Autorin