Peter Weber
Peter Weber, *1968 Wattwil
Der Wettermacher Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993
Voller Fabulierlust erzählt Peter Weber in seinem hochgelobten Erstling die Geschichte der wundersamen Landschaft Toggenburg, in die hinein die Brüder Freitag Melchior und August Abraham gepflanzt werden.
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gelesen von Jonathan Fink (5:19 Min.)
Textauszug, Seiten 11 - 14
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Unterwasser Mein Vater kommt aus Unterwasser, meine Mutter kommt aus Berlin. Unterwasser, das ist die zweitoberste, zweithinterste Ortschaft im Toggenburg. Es liegt zwischen den einerseits gäch ansteigenden, breitangelegten, streubesiedelten, grasbewirtschafteten Hängen des Alpsteins und den andererseits gäch ansteigenden, breitangelegten, streubesiedelten, gras- und schneebewirtschafteten Hängen der Churfirsten. Unterwasser, wo die eine Hälfte der Thur in verzweigter Weise quillt, zusammenfindet und in einer Grotte aus dem nackten Fels sprudelt, liegt vor Wildhaus, wo die andere Hälfte der Thur in verzweigter Weise quillt, liegt auf Boden der Gemeinde Alt St. Johann, dort wurde noch im letzten Jahrtausend das erste Kloster im Toggenburg gegründet. Es waren Benediktinermönche, die sich im Talboden angesiedelt hatten, bald starben sie aber einer nach dem anderen auf unerklärliche Weise weg, verröchelten förmlich, man schrieb diese seltsamen Tode dem Teufel und den zahlreichen in Felsklüften, Wurzelgrüften und Schotterfeldern vermuteten Wald- und Bergschraten zu, erklärte den heiligen Ort bald für verhext und verteufelt, das schmale Hauf der Überlebenden zog, nachdem ein Großteil der Anlage auch noch einem Brand zum Opfer gefallen war, von Alt St. Johann weg, gründete weiter unten im Tal ein neues Kloster, Neu St. Johann, was vom alten Bau nicht Raub der Flammen geworden war, nahmen sich Wald und Fluß wieder, schwemmten es weg, rankten es zu, so daß von den vier mächtigen Türmen und vom Wirtschaftsbau nurmehr Bruchstücke übriggeblieben sind, später wurden sie erneuert. Heute wird angenommen, daß die Mönche einstmals Bleivergiftungen erlegen sind, denn ihr ganzes Bewässerungsnetz, ihr ausgeklügeltes, feingeistiges Leitungssystem war aus Blei gegossen und gedängelt, Bleirinnen also, Bleirohre, Bleitröge, Bleinäpfe, mit Blei durchsetzte Zinnkelche, daraus sie sauren Meßwein tranken: wird beim Zerfall des Römischen Imperiums nicht ähnliches in Erwägung gezogen? Unterwasser jedenfalls liegt auf Boden der aus den klösterlichen Ländereien hervorgegangenen Gemeinde Alt St. Johann, diese erstreckt sich beidseitig bis an die anzüglich bewaldeten Zweitausender hinauf, sie tragen das voralpine Nadelgewand. Die Ortschaft weiß oberhalb und unterhalb der Waldgrenze mehrere Alpweiden auf Gemeindegebiet, kommt auf Gipfelhöhe mit dem aus breitem Fuß ruhenden Chäserugg in Berührung — Berührung, meine Liebe, die — da Berge vieles auf ihren Rücken dulden — auch geschäftlicher Natur ist. Eine Standseilbahn führt von Unterwasser aus bis auf halbe Höhe, von dort aus bezwingt eine Luftseilbahn den Chäserugg im Fünfzehnminutentakt. Es gibt an der Talstation genügend Parkplätze. Der Name der Ortschaft Unterwasser befruchtet die innerhelvetische Spruch- und Witzlandschaft seit Generationen und wurde neunzehnhundertvierundsiebzig mit dem von der Stadt Basel gestifteten Mehlsuppen-Preis der in den meisten Sprüchen und Witzen vorkommenden Ortschaft ausgezeichnet. So haben in der Ostschweiz Witze seit Menschengedenken Konjunktur, die von einem Velo-, Karren-, Kutschen-, Auto-, Postauto- oder Lastwagenfahrer meist österreichischer Herkunft handeln, der in Wildhaus etwas zu erledigen hat, die Paßstraße vom Rheintal her in Angriff nimmt, unverrichteter Dinge aber wieder abzieht, als er auf ein Verkehrsschild trifft: »Wildhaus Unterwasser«. Der Name der Ortschaft hat zwei Ursprünge. Zum einen nimmt er Bezug auf die Thurgrotte, die hinter dem Ortskern der Jahreszeit und Wetterlage gemäß Wassermassen spuckt: Grüne Schmelzwassermassen sind es bei allgemeinem Tauwetter, wenn Schneemassen in graubraunem, unerbittlich seichtem Schiff- und Pißwetter ertränkt und ersäuft werden und in wenigen Tagen vermatschen und schmelzen. Braune Wassermassen nach Platzregen und Gewitterniederschlägen im Sommer, wenn der Boden ausgetrocknet ist. Rinnsale, flau und erbärmlich in heißen Sommermonaten. Barockes Orgelwerk hingegen, sich grottenwandab zapfend, an klaren, kalten Wintertagen. In der Form und Beschaffenheit der Wetterorgeln, die sich jedes Jahr neu herauskristallisieren, insbesondere in der Form und Beschaffenheit der sogenannten Königspfeifen, die jeweils links und rechts des Grottenmundes großen Geiferfäden gleich heranwachsen, sahen dereinst Wetterkundige das verflossene Jahr gefroren festgemacht. Scharen alter Leute konnte man an jenen Wintertagen zur Grotte pilgern sehen, dort rotteten sie sich auf Stöcke abgestützt zusammen, disputierten und werweisten über Vergangenes. Es soll, so habe ich sagen hören, auch der Lauf des künftigen Jahres aus den Eiszapfen herauszulesen gewesen sein, auf die Gefahr hin allerdings, daß bei falscher Auslegung und Deutung das Grotten-Orakel über längere Zeit verstummte oder nur noch Ärger und Unheil spie. Heute werden Busreisen zur Thurgrotte von jeder größeren Ortschaft der Schweiz aus organisiert, Wege und Wegweiser machen sie Schweizer Familien zugänglich. Natürlich reizt es mich seit Kindesbeinen unsäglich, auf der gefrorenen Wetterorgel in der Thurgrotte frei zu improvisieren, hätte Lust, sämtliche Register zu ziehen, wild um mich zu orakeln, den Muttermund zu verleiten, ein Jahr lang Wassermassen Wassermassen Wassermassen auszuscheiden, die die Landschaft wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen würden, denn zum anderen bekundet der Name der Ortschaft Unterwasser die Tatsache, daß einst das ganze Toggenburg vollständig unter Wasser stand, worauf übrigens ein Schriftstück verweist, das in einer Bleibulle versiegelt den Brand des Klosters Alt St. Johann beinahe unbeschadet überstanden hatte. In anschaulicher Weise wird darin beschrieben, wie zu Anfang der Zeiten ein unsägliches Meer himmelgleich über allem lag. Jenes Meer, so steht geschrieben, soll die Landschaft Toggenburg als ein Kindlein in ihrem Bauche getragen haben, in jenem Meer sollen die eigenwilligsten Fische geschwommen sein, mit Hörnern wie von gräßlichen Stierenviechern, mit Augen so groß wie der Mond, jenes Meer, das bis an beide Enden der Welt gereicht, soll, davon könnte ich Dir ein Lied singen, in jedem, der aus dieser Landschaft hervorgegangen ist, noch immer vorhanden sein. In diese These mündet ein wahrer Erguß von Aufzählungen und genauer anatomischer Kennzeichnungen der Wesen und Aberwesen, die in jenem Meer schwammen, sie werden ferner als Argument für die nicht nur dem Schönen und Anmutigen zugetane Schöpferlaune des Allmächtigen ins Feld geführt. Das Schriftstück, das mit »Humbug Zwengeleyn« signiert ist, wird im Toggenburger Museum in Lichtensteig lichtgeschützt vitriniert und könnte, wovon nicht wenige Fachleute ausgehen, der Hand eines Vorfahren des großen Reformators Zwingli entflossen sein.
Textauszug / Audioaufnahme: Mit freundlicher Genehmigung der Suhrkamp Verlags GmbH Peter Weber, Der Wettermacher. © 1993, Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin. |