Lisa Elsässer

Lisa Elsässer, *1951 Bürglen UR

Fremdgehen, Rotpunktverlag, Zürich 2016

Die in Walenstadt lebende Autorin wagt sich in ihrem Romandebüt in tabuisierte Zonen vor: Julia und Lino lernen sich kennen, sie schreiben sich E-Mails, später Briefe. Es entspinnt sich eine von Zwiespalt durchzogene Liebeskorrespondenz.

Audioausschnitt

gelesen von Anja Dütsch, Jonathan Fink und Christian Hettkamp (9:18 Min.)

Textauszug, Seiten 110 - 115

Frühling 2006

Im Frühjahr kehrte er aus der Großstadt zurück.

Im Januar hatten sie ein zweites Mal ein paar winterkalte Tage zusammen am Meer verbracht. Die Zeit gestaltete sich in derselben Art wie das erste Mal: der gleiche Tagesrhythmus, das gleiche Flirren zwischen ihnen, wenn er sein süßes Frühstück aß und sie sich eher den salzigen Speisen zuwandte, sie dabei über ihre unterschiedlichen Geschmäcker lachten, er Tee, sie Kaffee trank, sie später wieder ins gleiche Café gingen, um dann, erfüllt von Wärme, Begehren, draußen bei Wind und Kälte stundenlang am Strand zu laufen, mal in die eine, mal in die andere Richtung, sich ihre Leben erzählend, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, und es doch Verbindendes gab, dem sie sich zuwandten. Im frühen Dunkel des Nachmittags mit großer Sanftheit und einer ungeahnten Leidenschaft einer des anderen Körper erkundete, als ob es das erste Lieben, das letzte mögliche Lieben wäre, neuer Anfang noch nie gelebter Möglichkeiten. Manchmal lachten sie in diesem Glück, und manchmal weinten sie über das Glück, oder sie lachten, weinten über diese neue Erfahrung eines Glücks, das sie sich aus unerfindlichen Gründen bis anhin nicht erlaubt hatten. Später, bei einem Glas Wein in der immer gleichen Bar, ging das Sprechen, das Flirren weiter, ebenso beim Abendessen, und jede Nacht beim immer gleichen Spiel das schöne Schweigen, jede neue Nacht anders gestaltet.

Einige Tage vor seiner Rückkehr schlug sie ihm vor, dass sie ihn gerne am Flughafen abholen würde und dass sie dann eine oder zwei Stunden in der nahe gelegenen Stadt zusammen verbringen könnten, bevor jeder von ihnen wieder in seine eigene zurückkehren würde. Er freute sich über ihren Vorschlag. Dann aber entstand in ihren wieder hin- und herfliegenden Briefen ein weiteres der vielen Missverständnisse, die es so nur in Briefen geben kann und über die sie jeweils hinterher lachten, wenn sich die Erschütterungen wieder gelegt hatten, der Tonfall in den Briefen wieder anders wurde, bevor es den nächsten, mehrdeutigen wieder gab!

*

Liebster Lino,

von einer Stunde auf die andere sozusagen hat sich heute meine Stimmung in ein eigenartiges Abseits manövriert! Es ist das erste Mal, dass ich realisiere, in was für einen Engpass wir jetzt geraten werden. Die große Stadt war da direkt komfortabel. Ich weiß, Du willst das jetzt bestimmt nicht hören, aber ich muss darüber sprechen können, wie ich mich fühle. Und weiß doch sehr genau, dass ich auf die Geduldsschiene umstellen muss und nicht darüber jammern darf, wie es sein wird, Dich zwar sehen, aber körperlich nicht lieben zu können, bis Deine Wohnsituation geklärt ist. Lino, das setzt mir doch sehr zu! Ich freue mich so sehr auf Dich und ängstige mich gleichzeitig vor der größeren Nähe, die uns doch so wenig Platz lässt.

...traurig über diese uns umwehende Bedrohung, von außen ertappt, verachtet zu werden!

Du

Julia

*

Liebste Julia,

Du hast ja schon recht, das ist keine komfortable Lage, in die ich Dich da bringe. Ich fürchte, es wird unserer Beziehung vieles abverlangen. Natürlich versuche ich mir einzureden, dass es noch schlimmer hätte kommen können, wenn meine Trennung nicht gewesen wäre. Bin mir nicht sicher, ob wir in der Öffentlichkeit nur wie »Bekannte« oder »Freunde« auftreten sollten. Das klingt wahnsinnig spießig. Bis uns jegliches Gerede egal sein kann oder einfach egal ist. Aber vielleicht braucht es dafür Jahre.

Aber ich glaube, wir dürfen uns von all dem nicht kaputt machen lassen. Vielleicht müssen wir viel Berufliches vorschieben, um uns abzulenken. Ich weiß es doch auch nicht, ich habe so etwas noch nie durchlebt.

Ich liebe Dich sehr

Lino

*

Lieber Lino,

ich glaube, es ist besser und stimmiger, wenn ich nicht an den Flughafen komme. Deine Sprache im letzten Brief ist mir fremd, ich bringe überhaupt nichts mehr zusammen. Und so würde ich dort bei Deiner Ankunft auf einen mir ganz fremden Menschen stoßen...

Kennen wir uns überhaupt?, würde sie ihn fragen, dann seinen Koffer küssen, und drittens liefen mit den dicken Ankunftstränen auch die dunklen Wimpernfarben über ihr Gesicht wie Tintenflecken.

Nach dem Dezemberdiktat, oder sagen wir besser der Weihnachtsgans, nun auch die Frühlingsrolle: Eigentlich weiß ich heute Abend nicht mehr wirklich, geht es jetzt um Dich oder geht es um mich, wer soll geschützt werden? Jedenfalls geht es nicht mehr um uns, das ist meine große Schwierigkeit. Aber wenn Du willst, können wir an unserer Stelle auch die »Umwelt« entscheiden lassen. Ich bin einfach untröstlich heute Abend. So ist das, Liebster!

Julia

*

Sie meinte, ein zögerndes Verhalten seinerseits in diesem Brief gespürt zu haben, ein halbes Ja, das einem halben Nein glich, sodass sich eine Eindeutigkeit bei beiden Wörtern verlor, als hätte sie zwei vernebelte Aussichten vor sich gehabt, die sich erst durch den von ihnen beiden gefühlten Zorn, der in den Briefen wie Funken aufleuchtete, lichteten, in weiche Nebel übergingen, in zartere Worte, in liebende Äußerungen.

*

Liebe Julia,

ich hätte ja auch auf dieses eigenartige Abseitsmanövrieren einfach nichts zu schreiben brauchen. Aber ich bin nicht einmal mehr so überzeugt, ob diese Nichtreaktion nicht genauso wieder eine »Scheiße«-Reaktion bewirkt hätte. Ich fühle mich davon überfordert, liebe Julia, sehr überfordert. Das ergibt für mich Wechselbäder, die gar keinen Sinn mehr machen. Da redete ich einmal vom Alleinankommen, weil ich nie gewagt hätte, Dich um ein Abholen zu bitten; dann schlugst Du ein Abholen von Dir aus vor, und ich war hell begeistert; dann hast Du dieses Abholen sehr freundlich, charmant, aber dezidiert quasi wieder zurückgenommen; und jetzt ist es plötzlich wieder im Raum, weil... ja, warum eigentlich... weil Du es schon so in Deiner Familie kommuniziert hast. Weißt Du, ich bin ein richtiger Dummkopf, aber ich möchte mit einem Mal wirklich nicht mehr abgeholt werden, auch wenn das für Dich nun ein sinnloses Herumlaufen in der Stadt bedeutet und für mich ein sinnloses Ankommen auf dem bekannten Flughafengelände. Und weil beides so sinnlos erscheint, deswegen liebe ich diese Vorstellung mit einem Mal. Es hat beides keine Bedeutung und doch tun wir so, als ob es eine Bedeutung hätte. Irgendwie gefällt mir diese Vorstellung von zwei Liebenden sehr, die etwas ganz und gar Sinnloses in ihrer Liebe tun.

Lino

*

Liebster Lino,

ich denke, wir sind gerade ein bisschen arg unter eine Hochspannungsleitung geraten. Darf doch sein oder etwa nicht, dass wir unter Strom stehen?

Ich habe jetzt begriffen, dass Du nicht abgeholt werden willst. Ich kann Dich verstehen, liebe diese Sinnlosigkeit aber trotzdem nicht, ich akzeptiere sie jetzt einfach als das, was sie ist: eine Ganzundgarsinnlosigkeit, die allem widerspricht, was wir in unserer Beziehung bis anhin zusammen geleistet haben!

Vielleicht hören wir uns heute einmal!

Das seltsamste Paar weit und breit ist gerade ziemlich heftig am Straucheln... wie ein Flugzeug in Kälteschichten. Ich liebe Dich, Lino, das ist, was mir jetzt noch zu sagen bleibt: hey, kompliziert gerne haben...

Julia

*

Liebste Julia,

ich bin berührt von allem, könnte laut losschreien über all das von mir und Dir Geschriebene. Du hast recht, das sieht gar nicht nach einem starken Paar aus. Aber ich möchte doch das gerade so sehr. Hör nicht mehr auf mich, mach, was Deine Gefühle sagen. Weißt Du, auf dem Rückweg vom Konzert habe ich so im kühlen Regen gedacht: Wenn ich alleine auf dem Flughafen bin, dann fahre ich in die Stadt und gehe dort in die Bar im ersten Stock und trinke einfach so ein Glas Weißwein. Und vielleicht würdest Du mit dem gleichen Gedanken auch dort auftauchen und es wäre alles wieder so gut. Das habe ich plötzlich gedacht. Und es hat mich so warm berührt.

Du!

Lino

*

Ich bin aber zuerst am Flughafen und dann in der Bar.

Julia

 

Textauszug / Audioaufnahme: Mit freundlicher Genehmigung der Rotpunktverlags AG