Eveline Hasler

Eveline Hasler, *1933 Glarus

Anna Göldin Benziger, Zürich 1982

Eindringlich erzählt die einst in St.Gallen lebende Autorin die Geschichte der letzten Frau, die in Europa als Hexe hingerichtet wurde. Die aus Sennwald stammende Anna Göldin wird beschuldigt, ein Kind verhext zu haben, flieht ins Toggenburg, wird verraten, verhaftet und hingerichtet.

Audioausschnitt

gelesen von Anja Dütsch (7:46 Min.)

Textauszug, Seiten 208 - 212

Je kleiner sich Anna vorkam, auf ihrem Strohsack, vergessen im Schatten des Glärnisch, umso machtvoller wuchs sie in den Köpfen, wurde gross und grösser, schwoll ins Ungeheure, eine Riesin, Zauberin mit gefährlichen Kräften.

Dazu trug der Morgen des 10. März bei.

In der Ratsstube, über der im dritten Stock Anna auf dem Strohsack sass, war vom Landschreiber das Visum & Rep. verlesen worden, jetzt trat Doktor Marti vor, gab Antwort auf die oft gestellte Frage, ob er die Krankheit der Anna Maria für Teufelswerk halte? Er hatte die Stellungnahme für einen Freund in Zürich schriftlich abgefasst:

»Ich wollte fast zugeben, dass der sogenannte Fürst der Finsternis ein viel zu grosser Herr sey, als dass er sich mit dergleichen Kinderspielen abgeben sollte: aber das kann ich nie glauben, dass zwischen St. Michael und Satan auf- und abwärts so erstaunliche Klüfte leer seyn sollten. Ist es nicht möglich, dass es auch in diesem grossen Zwischenraum von, uns unsichtbaren, geistigen Geschöpfen wimmelt, welche mit einem freyen Willen würken und gut oder böse seyn können, und so vielleicht wohl oft gar ein Affenspiel mit uns treiben, sowie wir auch gegen niedrige Geschöpfe zu thun pflegen ... Haben wir denn wohl eine vollkommene Gewissheit davon, ob es nicht in den Luftgegenden eine Gattung von Geschöpfen giebt, die weder gute noch böse Engel, noch Seelen abgeschiedener Menschen, sondern von uns und ihnen unterschiedene Mittelwesen sind, halb Engel, halb Mensch?»

Glarus also die Kulisse für die erstklassige Inszenierung einer Haupt- und Zauberaktion, wo Unter- und Überwelten sich regten, machtvoll eingriffen in die Belange der Lebendigen. Zwischengeister verschiedenster Provenienz, kichernd, Schabernack treibend zwischen Wiggis, Schilt und Glärnisch.

Unterteufel, servile Dämönchen, Poltergeister, die dem Wink einer Magd gehorchten; die Hierarchie der sichtbaren Welt setzt sich, wie wäre es anders zu denken, auch im Unsichtbaren fort.

Und dieses machtvolle Wesen sass jetzt bei Wasser und Brot über den Köpfen des Rates.

Gefährlich konnte das werden für die sechzig aufrechten Männer aus Glarus und den Talschaften.

Eine Magd, eine schwache Frau, gewiss.

Aber dahinter lauerte die Verderberin, die, wenn sie der Teufel stach, fertig würde mit sechzig an der Zahl, Hexenblendwerk auf Männer applicieret, die sie je nach Lust und Laune ihrer Manneskraft beraubt oder buhlerisch umgarnt ...

Ob die Anna Göldin denn in Ketten liege?, fragte ein Bauer aus Linthal.

Der Weibel nickte.

Bekam dann durch den Vorsitzenden die Ordre, die Sicherheitsmassnahmen zu verstärken.

Was nütze das schon, sagte der Waffenschmied Freuler. Solche Leute gingen auch durch verschlossene Türen. Sie besässen das Springkraut, die Schlösser gingen von selbst auf.

Tumms Züg, sagte der Metzger Streiff. 

Die Sitzung ging weiter, aber die Anwesenheit der Hexe war zu spüren, es knisterte, Gedanken wurden angefacht, heimliche Wünsche. Einer flüsterte seinem Nachbarn zu, letzte Nacht seien Hexen nackt auf gesalbten Besen durch seinen Traum geritten. Darauf der andere: Der fleischliche Umgang mit einer Hexe steigere die Potenz, das sehe man, mit Verlaub, am Bespiel des Doktors Tschudi, seine Frau sei guter Hoffnung mit dem Elften.

Dann könne also mit den gütlichen Verhören begonnen werden, sagte der Vorsitzende Marti.

Darauf trat der Fünferrichter Tschudi vor.

Bat den Rat, noch »mit der Vornehmung der Examina einzuhalten«. Er wisse, das töne absurd.

Schliesslich sei er es, der die Dinge vorangetrieben habe. Aber er wolle um des Kindes willen noch einen Versuch machen. Er habe - und dies von kompetenter Seite — gehört, dass »derlei Leute das von ihnen verderbte wieder gut machen könnten«. Deshalb wolle er die M. G. H. u. O. höflich ersuchen, »bey der Göldinn auf gutfindende Weise einzufragen: ob sie das Kind nicht wiederum zu seiner ehevorigen Gesundheit bringen könnte«, wie der Landschreiber in seinem Protokoll festhält.

Der Umstand, dass der Weibel persönlich das Essen bringt, und der ungewohnte Weindunst, der ihr aus dem Krug entgegenschlägt, hat Anna hellwach gemacht.

Ist meine Unschuld erwiesen, Blumer? Oder werde ich verhört?

Der Weibel setzt den Weinkrug auf den Tisch, macht eine bedeutungsvolle Handbewegung.

Vor den Verhören habe man das Kind noch einmal untersucht, es befinde sich in einem jämmerlichen Zustand, könne weder gehen noch stehen. Sein Elend, könnte sie es sehen, es schnitte ihr ins Herz. Er hält inne, aber Anna sitzt stumm da. Der Rat frage nun im Namen des Doktor Tschudi an, ob sie helfen könne?

Da sagte Anna gepresst: Wie soll ich dem Kind helfen können? Ich habe ihm nichts zuleid getan.

»... darüber er, Landweibel, ihr versetzet habe, dass sie ohne Zweifel die Thäterin des dem Kind zugefallenen Übels sey, und wann sie die Wahrheit hinterhalte, so werde sie durch den Scharfrichter angegriffen werden...« 

Anna hat sich erhoben, steht im Halbdunkel, atmet rasch und laut.

Der Landschreiber drängt. Ihre Strafe, käme sie der Bitte entgegen, falle gewiss milder aus.

Anna seufzt. Erbittet sich eine Nacht Bedenkzeit.

Dieses jähe Stillstehen aller Gedanken.

Bis hier und nicht weiter.

Gehetzt über Hügel, Höhen und Kuppen, atemlos schliesslich das Gefühl zurückkehrender Sicherheit. Da öffnet sich ein Abgrund.

Die Methoden der Verfolger sind ausgeklügelt.

Bärenfallen mit Reisig bedeckt, Gruben, Tellereisen.

Trotz der fortschreitenden Nachtstunden ist sie klarsichtig. Erkennt die Ränder der Falle, inspiziert sie, blickt durch die Reisigtarnung in die Tiefe.

Schon deutlich am Ohr das Keuchen der Verfolger.

Kein Schritt nach vorn, keiner zurück.

Sagt sie Nein, holt man den Scharfrichter.

Sagt sie Ja, werden sie triumphieren: Sie hat das Kind verdorben, deshalb kann sie es heilen.

Wie eine Maus zum Speck hat sie sich nach den Mangeljahren ins Glarnerland verrannt.

Zwei-, dreimal ist sie zurückgekehrt.

Jetzt sitzt sie in der Falle.

 

 

Textauszug / Audioaufnahme: Mit freundlicher Genehmigung der Autorin