Bettina Scheiflinger
Bettina Scheiflinger, *1984 Wil
Erbgut, Kremayr & Scheriau, Wien 2022
Wie Mosaiksteinchen setzt die Wiler Autorin in ihrem Debütroman Szenen aus verschiedenen Biografien nebeneinander, bis allmählich sichtbar wird, wie über Generationen Verhaltensweisen, Lebensentwürfe und Traumata weitergegeben werden.
Audioausschnitt
gelesen von Anja Dütsch (5:24 Min.)
Textauszug, Seiten 181 – 183
Ich bin vierunddreißig Jahre alt und streife durch die Straßen des Quartiers, in dem ich aufgewachsen bin. Die Katze folgt mir bis ans Ende der Straße. Dort setzt sie sich hin, schaut mich erwartungsvoll an. Ich versuche sie zu locken.
»Ztztztzt, komm, komm noch ein Stück mit mir mit.«
Ich lege meine ganze Überredungskunst in die Wörter. Die Katze senkt den Kopf, leckt ihre linke Pfote. Ich überquere die Straße. Auf der anderen Seite drehe ich mich nach ihr um.
»Komm, miez, miez, begleite mich doch noch.«
Die Katze stellt die Pfote wieder auf den Boden, hebt ihren Kopf. Sie spitzt die Ohren. Dann steht sie auf, stolziert mit aufgerichtetem Schwanz zurück zum Haus meiner Eltern. Wenige Schritte später stehe ich schon vor dem Haus, wo ich einmal in den Kindergarten gegangen bin. Zuerst erkenne ich es kaum. Ich frage mich, ob es umgebaut wurde. Es erscheint mir aber absurd, dass ein Haus verkleinert wird. Außerdem sieht der Eingang noch gleich aus. Die gelben Balken um die Tür sind mit weißen Verschnörkelungen versehen. Ein großes Schild aus Plexiglas prangt neben dem Eingang. »Städtischer Kindergarten« steht darauf, daneben das Logo der Stadt.
Ich spähe zum Fenster rein. Eine Reihe Haken auf Bauchnabelhöhe ist an der Wand befestigt, über jedem Haken klebt eine kleine, farbige Zeichnung von einem Tier. Ich gehe weiter die Straße entlang, tiefer ins Quartier hinein. Überall hier ist jetzt eine verkehrsberuhigte Zone und Bodenwellen im Abstand von wenigen Metern sollen den Verkehr zusätzlich abbremsen.
Vom Kindergarten zur Schule sind es auch nur wenige Minuten zu Fuß. Ich gehe um das Gebäude herum, betrete die Wiese dahinter. Es gibt jetzt bunte Kletterstangen, Trampoline und eine Weitsprungbahn. Ich setze mich auf eine Schaukel. Auf der anderen Seite der Wiese räumt eine Familie ihre Decken zusammen. Die Eltern verstauen alles in großen Taschen. Die zwei Kinder balgen sich und lachen. Ich schaukle einige Male vor und zurück und springe am höchsten Punkt ab. Dann schlage ich den direkten Weg zurück zum Haus meiner Eltern ein.
Meine Mutter hat die Ausziehcouch im Gästezimmer mit einem weißen Laken bezogen. Ich hänge meine Jacke hinter die Tür. Im Schrank suche ich nach einem frischen Shirt. Ich ziehe ein rotes Oberteil mit einem kleinen Kragen aus einem Stapel. Das habe ich oft getragen, als ich in die Schule ging, erinnere ich mich. Ich streife es über. Es ist viel zu kurz. Ich ziehe es wieder aus, werfe es auf die Ausziehcouch. Im BH lege ich da. An meinem Ohr knistert es. Eine Packung meiner Lieblingskekse liegt neben dem Kopfkissen.
»Wie im Hotel.« Meine Mutter steht in der Tür und lächelt.
Ich öffne die Packung, beiße in einen Keks, biete ihr einen an.
»Es gibt gleich Abendessen.«
»Habe ich früher bauchfrei getragen, Mama?« Ich hebe das rote Shirt hoch.
Sie schüttelt den Kopf und lacht. »Das war nicht bauchfrei früher.«
Wir gehen hintereinander die Treppe runter ins Esszimmer. Mein Vater deckt den Tisch. Neben meinem Gedeck liegt ein Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer.
»Du könntest da mal anrufen, habe ich gedacht.« Mein Vater setzt sich auf seinen Platz. Meine Mutter schöpft Salat auf unsere Teller. Wir beginnen gleichzeitig zu essen.
»Es sind noch ein paar Stellen frei, habe ich von einem Freund erfahren, der dort arbeitet.«
Ich schlucke runter, trinke einen großen Schluck Wasser.
»Es gibt auch Teilzeitstellen und die Büros sind ganz neu.« Er schaut mich an, während er kaut.
Ich trinke mein Glas mit einem weiteren Schluck leer. Dann tupfe ich die Salatsauce mit einem Stück Brot auf, bis nichts mehr davon im Teller übrig ist.
»Ich fahre nächste Woche zurück nach Wien.«
»Schon nächste Woche?«
Ich nicke.
»Ruf ihn doch einfach mal an. Vielleicht ist es besser, als du glaubst?«
Ich schiebe den Zettel in meine Hosentasche.
»Sollen wir morgen eine Wanderung machen, auf den Chäserugg zum Beispiel? Unter der Woche sind nicht viele Leute da.«
Ich nicke und lächle meine Eltern an.
Ich lege mich angezogen auf die Ausziehcouch. Als ich meine Hose abstreife, fällt der Zettel raus. Ich hebe ihn auf und zerknülle ihn. Im Haus ist es still. Ich gehe ins Bad, stelle mich vor die Kloschüssel, öffne meine Faust. Langsam fließt das Blut zurück in meine Finger. Ich zerreiße den Zettel in kleine Schnipsel und lasse sie in die Schüssel fallen. Die Zahlen lösen sich auf. Ich spüle.
Textauszug / Audioaufnahme: Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG